Agfa-ORWO-Filmfabrik-Museum

Irgendwie wurde es mal wieder Zeit für ein wenig Industriegeschichte. Aber was heißt hier „ein wenig“?! Im Industrie- und Filmmuseum Wolfen wird Einzigartiges geboten! Man bekommt an einer noch erhaltenen Produktionsstätte aus den 1930er Jahren ziemlich komplett und gut verständlich den Herstellungsprozess fotografischer Filme gezeigt und erklärt. Für mich als ehemaligen Bad-Dunkelkammer-Betreiber waren das faszinierende Einblicke.

Erster interessanter Fakt zur Geschichte: Der Aufbau der Filmfabrik wurde bewusst nach Wolfen verlegt. Denn hier gab es neben günstigen Grundstückspreisen auch ein niedrigeres Lohnniveau als in Berlin, wo die Firma eigentlich ihren Sitz hatte. Ebenfalls wichtig war die gute Landluft, denn die Filmproduktion braucht aus Qualitätsgründen dringend saubere Luft. Da ist es geradezu tragisch, dass sich dieser Standort im Laufe der Zeit zu einer der größten Dreckschleudern Mitteleuropas entwickelte.

Agfa schrieb in Wolfen technologische Weltgeschichte. Hier wurde 1936 der erste praktikable Mehrschicht-Farbfilm der Welt hergestellt. Das dazugehörige Wissen war selbst nach dem 2. Weltkrieg noch so aktuell, dass Eastman Kodak anhand der von der US-Armee erbeuteten Unterlagen einen Farbfilm herausbrachte, der auf dem Wolfener Verfahren beruhte. (Ähnliches taten später auch die Sowjets, als sie das Sagen in Wolfen bekamen.) (https://de.wikipedia.org/wiki/Filmfabrik_Wolfen)

Die Räume zur Fabrikation kann man nur im Rahmen einer Führung besichtigen. Besonders krass ist dabei die Vorstellung, dass es eigentlich nichts zu sehen gäbe – im Normalbetrieb. Denn alles fände im Dunkeln statt.
Aussage einer ehemaligen Filmfabrik-Arbeiterin aus meinem Bekanntenkreis:

Ja, das war eine Zeit!
Den ganzen Tag im Dunklen. Nur ein kleines rotes Lichtchen zur Kennzeichnung der Tür. Manchmal ist das Licht ausgefallen und man ist an die Wand gelaufen. Man sollte, wenn man sich bewegte, immer eine Hand als Kopfschutz vor den Kopf halten, damit man bei Zusammenstößen keine Kopfverletzung erlitt. Eine harte Zeit, aber auch lustig.

Und zu der Dunkelheit kamen weitere erschwerende Faktoren dazu: Die Ausdünstungen der Chemikalien, die Temperaturen in bestimmten Produktionsbereichen oder der Lärm bei der Perforation („Löffelrente“). Da wurde die Rotation der Mitarbeiter an den einzelnen Arbeitsstationen wichtig, um Unzumutbarkeiten für den Einzelnen abzumildern und Ungerechtigkeiten in der Bezahlung zu vermeiden. Der Frauen-Anteil lag in den 1970er Jahren mit 8.000 bei 60 Prozent. Es gab auch ganze Abteilungen mit Strafgefangenen. Wie oben gesagt „eine harte Zeit“ … wo das Lustige dabei gewesen sein soll, erschließt sich mir nicht so richtig.
Und so wurde im durchgängigen Schichtbetrieb 24/7/365 getan, was getan werden musste. Stillstand gab es nur, wenn es nicht mehr anders ging.

Die Führung beginnt im Mittelgang der letzten erhalten gebliebenen Produktionsanlage. Am großen Infrarot-Luftbild aus den frühen 1990er Jahren bekommt man die Ausmaße des Industriestandortes und die Entwicklungsgeschichte erklärt – und erkennt, dass das, was man noch sehen kann, ein winziger Bruchteil des untergegangenen Molochs ist.

Am Rande: Das, was man hier gezeigt bekommt, ist Technik aus den 1930er Jahren, die zwar wohl auch noch einige Zeit in der DDR verwendet wurde – aber die schon nach dem 2. Weltkrieg den russischen Demontage-Anforderungen nicht mehr genügte. Nur deshalb kann man die Anlage noch so besichtigen. (Heute steht das gesamte Gebäude unter Denkmalschutz.)

Gießmaschine

Im ersten Produktions-(Ausstellungs-)Raum befindet sich eine Gießmaschine zur Herstellung des Film-Trägermaterials. Heraus kommt ein endloses, durchsichtiges Folienband in 1,20m Breite, das auf Rollen zu 600m Länge konfektioniert wird. Da das Material für die nachfolgende Beschichtung mit den fotografischen Emulsionen zu glatt ist, wird in der Maschine gleich noch eine Seite der Folie ganz leicht angeraut (angeätzt).

Entwicklerraum

Im nächsten Raum, dem Entwicklerraum, kann man sich die etwas weniger spektakulären Gerätschaften zum Anrühren und Testen der Emulsionen ansehen und erklären lassen.
Mir gefiel der Miniroboter an der Wand am besten (explosionsgeschütztes Telefon).

Schmelzraum

Im Schmelzraum ist es bei Betrieb ziemlich laut und über 30 Grad warm. Hier werden die Emulsionen für den unmittelbar bevorstehenden Gießprozess vorbereitet. Das heißt, auf Temperatur gebracht, gleichmäßig durchmischt und in der Viskosität eingestellt.

Begießraum

Der Begießraum ist das Herzstück der Filmproduktion. (Der Begriff „Begießmaschine“ ist etwas irritierend, für mich ist es eher eine „Tauchbadmaschine“.) Im Gegensatz zum benachbarten Schmelzraum ist es hier recht kühl, denn der frisch begossene Film wird mit 5 Grad temperierter Luft beaufschlagt. Die anhaftende Emulsion soll möglichst schnell an Festigkeit gewinnen und dann trocknen. Das Trägermaterial läuft mit etwa 6 Meter pro Minute durch das Tauchbad. Die Zuführung der Trägerfolie ist so konstruiert, dass bei laufendem Betrieb, in einem Zeitfenster von ca. 1,5 Minuten, das Ende der durchgezogenen Rolle mit dem Anfang der nächsten Rolle verklebt werden kann.
Tauchtiefe, Geschwindigkeit, Prozesstemperaturen – alles muss kontrolliert und beherrscht werden, damit man die Schichtstärken, die in 1.000stel Millimeter gemessen werden, wie gewünscht hinbekommt.
Und mit einem Begießvorgang ist des Filmmaterial noch lange nicht fertig. Farb-Filme hatten mehr als 10 verschiedene Schichten, wurden hier also entsprechend oft durchgezogen – und wehe, bei der letzten Schicht geht etwas schief! (Mehrschicht-Begießung in einem Arbeitsgang gab es später auch in Wolfen, aber nicht mit dieser Anlage.)

Die hier zu sehende Begießmaschine soll tatsächlich die Maschine sein, mit der man den ersten verkaufsfähigen Mehrschicht-Farbfilm der Welt herstellte. HighTech aus den 1930er Jahren – in ihrem damaligen Status heute wohl durchaus mit aktuellen Chipfabriken vergleichbar.

Hänge / Trockenraum

Nach dem Begießen wird das Filmmaterial direkt der Trockenanlage, der Hänge, zugeführt. Vorher werden noch Abstandshalter zwischen die hängenden Schlaufen geklemmt. Diese Schlaufen bewegen sich an Rollen durch den mit sauberer und temperierten Luft belüfteten Trockenraum. Am Ende wird das Material wieder aufgerollt, ein Teststreifen abgeschnitten und in der Qualität überprüft. (Hier war also die Stelle, wo man schon mal erkennen konnte, ob der Film für den West-Export gut genug war oder nicht. Für den qualitätsbewussten Ost-Fotografen blieb die Chargen-Nummer, die man sich aber erstmal austesten musste.)

Innerbetrieblicher Transport

Da man die Begießstrecken im Dauerbetrieb laufen ließ, also nicht ständig die Emulsionsart änderte, wurde die nächste Schicht auf einer anderen Begießmaschine gegossen. Man musste also die 600m-Rolle zum nächsten Standort transportieren. Dies geschah zu Agfa-Zeiten mit dem hier gezeigten, lichtdichten Rollwagen. Zu ORWO-Zeiten durfte man diesen Wagen aus Lizenzgründen nicht nachbauen. (Die alten Wagen hat man wohl noch verwendet, aber der Betrieb wurde ja immer größer und brauchte Nachschub.) Man behalf sich mit einer viel einfacheren Holzwagen-Konstruktion. Die Filmrollen wurden dabei nur mit lichtdichtem Papier umwickelt. Das Ganze war so unfotogen, dass ich davon kein Bild gemacht habe …
Die Lichtabdeckung beim Transport war übrigens nur eine zusätzliche Sicherung. Die Betriebsstätten waren durch dunkle Gänge miteinander verbunden, teilweise sogar unterirdisch.

Nebenrechnung

Welche Ausbeute kann man von einer Produktions-Rohfilmrolle im Kleinbildformat erzielen?
(Kleinbild = 24 x 36 mm, in der Digital-Fotografie wird diese Sensorgröße als „Vollformat“ bezeichnet)
Abmaße der Rohfilmrolle: 600 x 1,2 Meter
Flächenverbrauch für ein Kleinbild: 35 x 38 Millimeter (empirisch ermittelt)
Ergebnisbetrachtung:
Bei einem Verschnitt von 15% kommen mehr als 460.000 Bilder heraus. Das entspricht mehr als 12.000 konfektionierten Filmen mit 36 Aufnahmen. (Wobei ich mir nicht sicher bin, ob die Verschnitt-Rate realistisch ist.)

Weiterer Ablauf

Nach dem aufwändigen Herstellungsprozess des Filmmaterials wird konfektioniert: Zuschneiden, perforieren, kennzeichnen und lichtdicht verpacken. Das war mit den Maschinen, die man im Museum sieht, ebenfalls eine recht aufwändige und handarbeits-intensive Prozedur.

Weiterführendes:

https://www.ifm-wolfen.de/de/ifm_geschichte-der-filmfabrik.html

https://www.mdm-online.de/LGSuche_load.do?pk=%2523Lj%252B9oijJlfg%253D