Plagwitz wird seit einiger Zeit als angesagter Stadtteil von Leipzig gefeiert. Hier ist die Jugend, hier geht es aufwärts, hier kann man gut leben und die lokale Kulturszene genießen.
Dies war nicht immer so. Ich kenne das folgende sinngemäße Zitat nur vom Hörensagen. Es stammt aus der Wendezeit und schildert die drastische Ausgangssituation:

Ja, Leipzig hat gute Zukunftsaussichten! Außer in Plagwitz, da ist ja alles kaputt und verseucht …

Aber Zeit kann alle Wunden heilen, wenn man sich unverzagt aufmacht und (in vielleicht auch nur kleinen Schritten) einer Vision folgt.
Und damit sind die heutigen Plagwitzer wohl wieder in der Tradition der Vorväter, die hier vor 170 Jahren begannen, ein Wirtschaftswunder in Gang zu setzen. Dieses nahm solch beachtliche Ausmaße an, dass man es heutzutage wohl nur mit solchen Projekten wie der Intel-Ansiedlung bei Magdeburg vergleichen könnte. (Oder auch nicht … die Zeiten sind ziemlich anders geworden!)

Bei dieser Stadtteilerkundung wollten wir es nicht bei unserem unzureichenden Wissensstand belassen. Wir bestellten uns online eine Plagwitz-Führung mit dieser Ansage:

In Plagwitz schlug 150 Jahre das industrielle Herz von Leipzig. Von Karl Heine um 1850 als Industrievorort entwickelt, siedelten sich bedeutende Unternehmen an, die eine einzigartige Industriearchitektur hervorgebracht haben. Unternehmer der Drucktechnik wie die Brehmer Buchbindereimaschinen, der Landmaschinenfabrikant Rudolf Sack und der Begründer des Versandhandels Ernst Mey hatten ihren Firmensitz in Plagwitz. Auf der Führung wird auch die Wandlung des Stadtteils vorgestellt. Wohnungen, Lofts und neues Gewerbe in der Industriearchitektur. Ehemalige Eisenbahntrassen sind jetzt grüne Geh – und Radwege und viele kreative Menschen nutzen die Freiräume, die heute Plagwitz bietet.

Ein wenig tat uns dann der Stadtbild-Erklärer leid. Bei hochsommerlichen Temperaturen waren wir die einzigen Interessenten. Freilich wurde die Führung dadurch für uns viel intensiver … Vielen Dank dafür! (Wir kennen das ja schon: https://schaufoto.de/vatikanische-museen/
https://schaufoto.de/rammelsberg/ )

Wir beginnen unsere Erkundungen erst mal allein am Plagwitzer Friedhof. Dort können wir ohne Probleme unbegrenzt parken und sind schon ganz nah am ersten Highlight, der Baumwollspinnerei. Doch die hat noch zu – und so ist unser erstes Ziel der Friedhof. Friedhöfe haben viel mit der lokalen Geschichte zu tun. Wir sehen auch einige offensichtlich bedeutungsvolle Gräber. Doch die fundierte Einordnung gelingt uns erst am Ende des Tages, als wir hier nochmals die Gräber inspizieren und das frische Wissen von der Führung im Hinterkopf haben.

WOW – Alien-Kunst auf dem Friedhof (von Christian Schmit, „Babel“ https://christianschmit.de/)
Schild am Haupteingang
Gleich ums Eck die Baumwollspinnerei, Hintereingang

Da die Baumwollspinnerei nach unserem Friedhofsgang noch immer nicht geöffnet hat, lassen wir uns weiter treiben. Über den Karl-Heine-Kanal zum Kunstkraftwerk Leipzig. Auch hier wird alte Industriearchitektur zum Veranstaltungsort für Kunstprojekte. Zur Zeit mit Gustav Klimt – was mich eigentlich interessiert – aber wir machen einen Abstecher hinunter zum Kanal. Der Karl-Heine-Kanal kann wohl als das Herzstück der Stadtteil-Sanierung gelten. Als Kunst-Wasserstraße fügt er sich geradezu harmonisch ins Stadtteil-Bild. Unvorstellbar, dass das Gewässer zu DDR-Zeiten eine überdachte Giftkloake war. Doch wir wollen hier nicht zu viel Vorguckerei betreiben, das ist alles nachher bei der Führung dran.

Stattliche Wohnhäuser an der Ostseite des Spinnerei-Komplexes.
Am Bahnhof Plagwitz die katholische Pfarrkirche Liebfrauen – erbaut für die vielen (katholischen) Arbeitskräfte aus Schlesien, die ins protestantische Leipzig kamen.
Kunst-Kraftwerk? – sieht doch aus wie ein Wohnhaus!?
… aber da gibt es noch jede Menge Kraftwerkshallen im Hinterhof.
Grüne Idylle und Ruhe am Karl-Heine-Kanal.
Wir sind wieder Richtung Baumwollspinnerei unterwegs.
Baumwollspinnerei-Reklame
Selbstdarstellung auf dem Werkshof

Das Areal der ehemaligen Baumswollspinnerei ist riesig. Der Besucherandrang ist sehr moderat. Man hätte hier direkt auf dem Hof parken können, dann allerdings (offiziell) mit zwei Stunden Zeitbegrenzung. In der Info zum ganzen Objekt gibt es eine Miniausstellung zur vergangenen Arbeitswelt an diesem Ort. Die ebenfalls vorzufindenden kleinen Kunstausstellungen können mich nicht gerade begeistern – da gab es auf dem Friedhof Interessanteres.
Auch die folgend besuchten Galerien, die von den Räumlichkeiten her von sehr klein bis sehr groß dimensioniert sind, können mich mit ihren Ausstellungen nicht sonderlich beeindrucken. Allerdings muss ich dazu sagen, dass wir uns noch lange nicht alles angesehen haben. Aber beim nächsten Mal! Vielleicht schon zum Herbstrundgang 2023 Anfang September? (spinnerei.de)

Platz hat man hier!
Ein paar Reste aus der alten Arbeitswelt.
Sommer-Kino mit Barbetrieb
Raum ohne Ende: Foyer einer mittelgroßen Galerie in der Baumwollspinnerei.
Eingangshalle zum Zentrum für zeitgenössische Kunst – das heben wir uns für später auf …

Unser ganzes Streben gilt jetzt dem Mittagessen. Dazu hatten wir uns online eine Kneipe mit guten Kritiken ausbaldowert. „Am Kanal“ heißt sie und hat für uns den Vorteil, dass es bis zum Treffpunkt zur Stadtführung nicht weit ist. Unsere Vermutung, dass es einen Zugang vom Fußweg am Kanal gibt, bewahrheitet sich nicht. Aber nach einem kleinen Umweg haben wir es dann geschafft.
Im ersten Moment werden wir zwar wie Außerirdische beglotzt, doch nach meiner Frage (in einheimischem Dialekt), ob wir auch draußen Mittag essen könnten, geht alles klar.
An einer Gartentisch-Garnitur, unterm unentbehrlichen Sonnenschirm, bekommen wir auf dem Bürgersteig an der Eckkneipe ein ordentliches Mittagessen und beobachten nebenbei das Treiben im Kiez. (Übrigens sind wir hierbei nicht in Plagwitz, sondern in Lindenau.)

Auf unserem Weg zur Kneipe …
Stadtteil-Begrünung auf Rädern? – Armer Baum!
Meinungskleber …
Und so sieht das aus, wenn es der Wirt aufgegeben hat. (Allerdings war alles funktionstüchtig, sauber und in Ordnung. Es soll wohl der Style der Kneipe sein.)
Auf dem Weg zum Treffpunkt der Führung: übers Jahrtausendfeld (nicht so toll)
Lindenauer Straßenzug von Plagwitz aus über die Karl-Heine-Straße gesehen.

Punkt 14 Uhr können wir unsere gebuchte Stadtteil-Führung beginnen. Die folgenden Bilder zeigen nicht alle Stationen und erwähnenswerten Details. Da gibt es auch noch viel Input, was nicht fotografierbar ist.

Markthallenflair in einer alten Werkshalle („Westwerk“). Hier wurden einst Industriearmaturen zusammengebaut.
Den guten alten Konsum gibt es hier noch – und das hat seinen Grund …
Karl-Heine-Straße, links Lindenau, rechts Plagwitz. Das „Kaiserbad“ ist nur überzogene Werbe-Sprache und hat keinerlei historischen Bezug.
Und endlich auch der Karl-Heine-Kanal selbst. Mächtig was los hier!
Tieffliegender Brummer macht Wind fürs „DaCapo“ – die Eventhalle mit Oldtimermuseum.
Letzte Industriearchitektur, die noch auf Wiedererweckung wartet.
Das Riesending der Konsumgenossenschaft bekomme ich nur als Bild an der Wand komplett durch meine Linse.
Selbst im Hof gibt es noch ein Superlativ: Die erste Tiefgarage Deutschlands, die mit LKWs befahrbar ist.
(Der heutige Konsum benutzt nur den hier zu sehenden Stirnteil des Riesenbaues.)
Hingucker: Die Fensterscheiben der äußeren Fenster sind gewölbt.
Weitere Industriearchitektur, der man nicht unbedingt ansieht, was sie einst beherbergte. (Ich meine hier vor allem das hintere, langgestreckte Gebäude. Dies ist übrigens in der Weißenfelser Straße.)
Ein frühes Logo der Industriegeschichte: RSPL steht für Rudolph Sack Plagwitz Leipzig. Darunter ein Pflugschar und ein halbes Eisenrad. Zu dem Thema empfehle ich: https://www.leipzig-lese.de/persoenlichkeiten/s/sack-rudolph/rudolph-sack-ein-landmaschinenpionier/
Da guckste! Venezianische Gondeln auf dem Karl-Heine-Kanal. Die ersten Leipziger Gondoliere wurden tatsächlich in Venedig ausgebildet.
Mal nicht so geschmiert …
… und hier bitte nie!

Unsere Stadtteil-Tour ist damit zu Ende. Da unser Auto sowieso am Friedhof steht, sehen wir noch nach, ob wir ein paar berühmte Plagwitzer finden, von denen wir eben gehört haben. Ich bringe an dieser Stelle keine weiteren Einzelheiten. Da werde ich nämlich nicht fertig! Wer sich informieren möchte, kann ja mit Karl Heine und Rudolph Sack beginnen. Es sind unglaubliche Storys, die da zum Vorschein kommen, kann ich versprechen!

Parkfriedhof Plagwitz die 2.
Ernst Mey, der Begründer des Versandhandels (AMAZON müsste hier eigentlich die Grabpflege übernehmen.)
Rudolph Sack, sehr erfolgreicher Landmaschinenfabrikant
Familie Brehmer, das sind die mit den Buchbindemaschinen
Mit dabei: Mathieu Molitor, der Schöpfer der Bronzefiguren am „Auerbachs Keller“

… und so ginge das bestimmt noch ein paar interessante Gräber weiter, wenn man denn die Informationen dazu vor Ort bekommen könnte.