Ich kann mich noch (leider) an die Comedy-Shows der Privat-TV-Sender erinnern, die um das Jahr 2000 herum liefen. Da brauchte man nur „Chemnitz“ sagen – und man hatte die Lacher auf seiner Seite. Denn alle wussten, dass jetzt etwas besonders Blödes folgt, eben etwas aus Chemnitz, dem Hotspot der vermeintlichen Ost-Einfältigkeit.

Mir tat damals schon die Stadt mit diesem idiotischen, aufgepapptem Image leid. Aber ich empfand auch nicht ein besonders Interesse, einmal dorthin zu fahren, um genauer nachzusehen.
Nun ist aber Chemnitz zur europäischen Kulturhauptstadt erhoben worden – und ich dachte mir, dass es spätestens jetzt Zeit sei …

Chemnitz war vor 100 Jahren ein gewichtiger, innovativer Industriestandort, über den sich niemand einfallen ließ zu lästern. Und selbst nach Bombenhagel und erzwungenem Sozialismus, samt entsprechendem Ausbluten gen Westen und Umbenennung in Karl-Marx-Stadt, war noch immer Potential vorhanden, das am Weltmarkt mithalten konnte. Hier waren und sind nicht nur Ost-Einfaltspinsel am Werk – hier ist ganz normales, entwickeltes Mitteleuropa.
Mehr noch: Es gibt zusätzliche, verinnerlichte Erfahrungen aus DDR- und Wende-Zeit.

Ich will hier allerdings kein zorniges Pamphlet abliefern, sondern ganz einfach – getreu dem SCHAUFOTO-Motto „fotografische Erkundungen von RRH aus WSF“ – ein paar ausgewählte Bilder von meinem Zweitage-Ausflug in die amtierende europäische Kulturhauptstadt von 2025 zeigen. Wie immer mit weiterführenden Bildunterschriften:

Mein erster Kontakt mit dem offiziellen Schriftzug verläuft desaströs: Ich sehe ein mutwillig kaputtgemachtes Logo und will es eigentlich nicht fotografieren. Erst meine Frau kann mich überzeugen. Mit einem Hinweis auf das rechts vom Standort des oben zu sehenden Bildes zu sehende Wandplakat – nächstes Bild.
„_C_THE_UNSEEN_“ ist kein Logo-Unfall, sondern eine Aufforderung. (Auf gut sächsisch: „Gucke hin!“)
Die „Hartmannfabrik“ ist zentraler Standort der amtierenden Kulturhauptstadt.
(Sicht diametral zum ersten Bild dieses Beitrages.)
In der Hartmannfabrik. Viel Platz für Kulturhauptstadt-Veranstaltungen.
Vor der Hartmannfabrik. Für mich war es ein totes Pferd – es ist aber ein schlafendes Pferd.

Ursprünglich lag es in Wien. Dort hat man es aber offensichtlich nicht so sehr gemocht. Man mag eher stehende Pferdestandbilder mit Monarchen oben drauf …

Um die Ecke von der Hartmannfabrik gibt es diese Geier-Kunst.
(Gedanken dazu muss sich jeder selber machen.)

Interessant finde ich die Nähe des Geiers zum schlafenden Pferd. Kann man beide Kunstobjekte auf ein Bild zusammen bringen? (Das würde eine neue Interpretation erlauben.) Diese Chance habe ich leider verpasst.

bunte Meinungsbilder in der Nähe der Hartmannfabrik
In Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) am berühmtesten?
Karl Marx mit großem Hinterkopf. (Für viele wertvolle Hintergedanken?)
Der Nischel in seinem natürlichen, sozialistischen Architektur-Umfeld.
Irgendwie gottgleich sollte er sein – und ich finde es richtig, dass er nicht „weggemacht“ wurde.
Chemnitz 2025 – Theaterplatz
Alter Gedanke von 1917 – aber nicht überholt!
innere Universitäts-Architektur
erhaltener sozialistischer Realismus (in der Universität)
wunderschöne Kapitalisten-Architektur
Hinweis auf altehrwürdige Tradition – heute ist der TÜV Süd hier ansässig
Modern gibt’s hier auch. (Mach mal was mit Fensterschatten!)
Noch mehr modern. (Mach mal was mit abgerundeten Fenstern!)
Am Roten Turm. Der Wochenmarkt war super!
(Die pseudo-maurische Kaufhaus-Architektur ist … irgendwie keine passende Idee.
Aber es gibt Schlimmeres!)
Fassadenkunst hilft Eintönigkeit zu vermeiden.
Die Portalseite der Chemnitzer Stadtkirche gehört zum Jugendstil – auch wenn man das nicht gleich erkennt.
Vorgarten-Lichterbogen (im Sommer!) mit lokalem Statement.
Raketenstartplatz im Küchwaldpark
(Die Absperrzäune wurden gerade aufgebaut, weil 150 Meter weiter weg, auf der Küchwaldwiese, in Kürze ein Bryan Adams Konzert stattfinden sollte. Man hatte wohl Angst, überrannt zu werden.)

Zum Thema Siegmund Jähn:
Die DDR-offizielle Lesart „erster Deutscher im All“ fand ich seltsam lächerlich. Wurde doch bis dahin immer größter Wert darauf gelegt, dass wir alle (und vor allem) „DDR-Bürger“ seien. Und als der erste DDR-Bürger den Weltraum besucht, ist er ein DEUTSCHER? Sollte man diese Formulierung schon als freudschen Vorboten zur Öffnung gegenüber einer Wiedervereinigung sehen? – Wohl kaum. Man wollte vor allem den Westteil Deutschlands ärgern … voll daneben und heute egal!
Viel wichtiger erscheint mir Siegmund Jähns Wirken nach der Wende als kompetenter Vermittler zwischen Ost- und Westraumfahrt, womit er sich allseits Anerkennung holte.
In seinem Geburtsort, nicht weit von Chemnitz in Morgenröthe-Rautenkranz, gibt es die „Deutsche Raumfahrtausstellung“. Ich denke, da muss ich demnächst auch noch hin …
https://www.deutsche-raumfahrtausstellung.de/

Im Ausstellungsraum des Kosmonautenzentrums gibt es die Geschichte der Raumfahrt im Schnelldurchlauf inklusive Mitmachstationen. Bis hierhin wird kein Eintritt verlangt.
Das waren Zeiten!
Für einen simulierten Weltraum-Mitflug werden 5 € pro Erwachsenem fällig. (Kinder 3 €)
Die vorführenden jungen Raumfahrer waren voll dabei.
(Erlebnispädagogik: https://www.solaris-fzu.de/einrichtungen/kosmonautenzentrum-sigmund-jaehn-1.html )

15 Gehminuten vom Kosmonautenzentrum entfernt:

Schlossberg, mit Schlossmuseum und Schlosskirche St. Marien
Die farbenfrohe Orgel der Schlosskirche kommt nicht vom Rummel, sondern aus dem Odenwald.
Die eindrucksvolle Geißelsäule stammt vom gleichen Meister wie die Tulpenkanzel im Freiberger Dom.
( https://schaufoto.de/freiberg-in-sachsen/ )

Szenenwechsel zum Industriemuseum Chemnitz:

Da könnte ich stundenlang drumherumschleichen und gucken …
Ein respekteinflößender Fliehkraftregler.
Aber heute läuft es hier anders als sonst: Schokoladenhersteller aus aller Welt bauen gerade ihre Stände zwischen den Ausstellungsstücken auf. Ich finde das nicht so toll.
Können die nicht in die leere Hartmannfabrik? (siehe ganz oben)
Trotzdem gelangen mir noch ein paar schokoladenfreie Bilder.
Wer einen 8-Stunden-Arbeitstag an so einer Revolverdrehmaschine übersteht (und die Norm erfüllt), darf sich als „Held der Arbeit“ fühlen.
Diese seltsam aussehende pneumatische Sternrevolver-Drehmaschine mit Kugelschrittschaltwerk kenne ich aus meinem DDR-Arbeitsleben. Wir nannten sie „Emma“.

… und das Logo an der Maschine „WMW“, was für „WerkzeugMaschinen & Werkzeuge“ stand, wurde mit real existierender, sozialistischer Selbstverachtung mit „Wir Murksen Weiter“ übersetzt. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Auch Made in Chemnitz!
Und dieses Klappergerüst soll ein 3D-Drucker sein? Den hätte ich mal gern in Aktion gesehen.

Zwischenbilanz: Das Industriemuseum Chemnitz lohnt auf jeden Fall einen Besuch! Die paar Bilder hier zeigen bei weitem nicht alles. So fehlt z.B. der Textilmaschinen-Bereich vollkommen. Allerdings kann ich bei diesem Thema sagen, dass man im Schwestermuseum in Crimmitschau einen noch beeindruckenderen Einblick erhält, wenn man dort an einer Führung teilnimmt: https://schaufoto.de/crimmitschau-mit-pfau/


Auf der Heimfahrt haben wir uns dann noch am Rand von Chemnitz die Burg Rabenstein angesehen.

So hoch auch der Bergfried ist, man kann die (Rest-)Burg vor Ort schnell übersehen.
Nachhaltigkeit aus dem Barock? Auf jeden Fall erkannte man damals schon das Problem …
Speisesaal mit UNO-Rundtisch?
Bestandteil von „Chemnitz 2025 _C_THE_UNSEEN_“: 17 UNO-Ziele der Welt-Entwicklung …

Eines steht fest: Wer nach Chemnitz kommt, kann sehr viel Verschiedenes sehen und erleben. Und das wohl nicht nur im Kulturhauptstadt-Jahr 2025.

Ganz zum Schluss noch drei Suchbegriffe in Sachen Gastronomie, die wir getestet und für gut befunden haben: Diebels Fasskeller, Kellerhaus Chemnitz, Pelzmühle